Wer wir sind
So eine Idee
Weihnachten 2004. In Drenkow, einem winzigen 60 Seelen Dorf in Mecklenburg, am Rande der Prignitz. Man könnte etwas aufführen zu Weihnachten für die Kinder, sagt der Demeter Bauer Jörg. Schnell findet sich eine Gruppe von Bauern, Hausfrauen und Zugereisten zusammen. Jörgs Vorschlag, die altfränkische Version eines Krippenspiels aufzuführen, stösst auf wenig Gegenliebe. Marianne Enzensberger, die aus Berlin gekommen war, schlägt E.T.A. Hoffmanns DER NUSSKNACKER UND DER MAUSEKÖNIG vor. Das romantische Kunstmärchen spielt am Weihnachtsabend, und einige Motive schmücken die Wände von Mariannes Haus. Sie schreibt die Erzählung in ein Theaterstück um. Weil das Cafe nicht fertig gebaut war, spielt die Truppe im Stall neben kackenden Kühen. Ihre Kostüme und Requisiten stinken noch Jahre später
Blaue Blume
Das Dorf fordert ein Jahr später ein neues Stück, die theaterbegeisterten Mitstreiter wollen nicht aufhören, und so folgen DIE SCHNEEKÖNIGIN und das Jahr drauf DER SPIELER AN DEN TOREN ZUR MORGENDÄMMERUNG. Das Cafe des Bio Bauern hat inzwischen eine Bühne, es dient als Proben- und Aufführungsraum, und die Theatergruppe möchte spielen, proben, spielen, ohne zeitliche Festlegung.
Jetzt sollen es eigene Stücke sein, mit Themen, die sich die Spieler mit Marianne aussuchen. Marianne schreibt. Viele der jungen Spieler ziehen nach Berlin und fahren zu den Proben in die Prignitz.
Sie geben sich einen Namen. Sie spielen in Nebenräumen von Dorfkrügen , deren Bühnen verwaist unter Neonlicht vor sich hin dämmern, auf Ökohöfen und in altenTheatern von Hotels. „ Wenn die Leute nicht zu uns kommen, müssen wir zu ihnen gehen“.
Kultur und Theater in eine Region zu bringen, die mit herrlichen Landschaften aufwarten kann, aber wenig Möglichkeiten für ein kulturelles Programm bietet, ist das Konzept der BLAUEN BLUME. Der Name symbolisiert die Sehnsucht und Suche nach dem ewig Schönen, dem Wahren, dem Geheimnis unseres Lebens – mit unsicherem Ausgang. Die Dichter der Romantik fanden dieses Symbol der blauen Blume für das ewig Unerreichte und das Kreative der Suche danach.
Die Stücke
Einige Spieler der ersten Stunde hatten sich verabschiedet. Zu groß das Herzklopfen, zu stark der Gedanke, talentfrei zu sein. Neue kommen hinzu. Sie probieren Neues aus. In DIE SCHNEEKÖNIGIN von Hans Christian Andersen, setzen sie Dias ein, bauen ein richtiges Bühnenbild und spielen die philosophische Hans Christian Andersen Version ohne den Kitsch der Disney Filme.
2006 schreibt Marianne eine moderne Adaption des Rattenfängers von Hameln, ein Stück über Kriege, erwachsen werden und die Geschichte der Popmusik. In DER SPIELER AN DEN TOREN ZUR MORGENDÄMMERUNG setzen sie Musik von Led Zeppelin ein, und Gerd, ein Freund der Truppe, komponiert zu Goethes Gedicht „Der Rattenfänger“ einen schmissigen Song zum Mitsingen. Sie bauen ein Fachwerk auf die Bühne und werden von dem Nachbarstädchen Putlitz eingeladen.
Das Fernsehen hat Hausmacht in den Dörfern, und deshalb beschäftigt sich 2008 das Stück WAHRHEIT ODER LÜGE mit den Trash Talk Shows der Vormittage. Das erste mal ein eigenes Thema. Fernsehen ist Gott.
SPRACHLOS ist komplizierter. Niemand spricht. In den Kneipen schwirren Worthülsen und vorgefertigte Meinungen. Die Dörfer und kleinen Städte werden stumm. Ewige Wiederholungen: „Die Welt ist schlecht…“ Ein Mädchen, der Engel der Sprache, zieht durch die Diskotheken und Kneipen und liest aus Büchern vor. Dazu dröhnen Schlager von Michelle. Auf der Bühne ist alles aus Pappe.
Mit SEIDENSTRASSE trauen sie sich 2013 an eine dramatische, verschlungene Handlung, die sich als Puzzle zusammensetzt und erst am Ende klar werden lässt, was geschehen ist. Alle wissen alles, aber alle verschweigen die Wahrheit. Ein Kokon spinnt sich um die Handelnden, die sich mehr und mehr verstricken. Marianne hatte jahrelang einen Mann beobachtet, der zwischen den Dörfern Porep und Drenkow hin und herwandert. Für sie eine anrührende poetische Figur. Um ihn herum erfindet sie ihre Figuren. Eine ziemlich aufwändige Produktion mit selbst gedrehten Filmen, und einem Bühnenbild, das am Ende völlig eingesponnen wird.
Dazu Musik, Anat tanzt auf Gymnastikbällen, Annie und Rosa machen synchron Aerobic und Mei, eine Japanerin, hat ihre erste grosse Sprechrolle.
Die Gruppe
14 Jahre gibt es die Blaue Blume. Spieler kamen, Spieler gingen, viele bleiben. Wechselnde Darsteller aus den umliegenden Dörfern in Mecklenburg und Brandenburg, aus Berlin, Rostock, Japan und Großbritannien.
Viele von ihnen hat es über die Jahre nach Berlin oder anderswo in die Welt gezogen. Zu den Proben fahren sie in die heimatliche Provinz. Die Jüngste ist 13, die Älteste über 70, es sind Arbeiterinnen, Angestellte, Bauern, Studentinnen, Schülerinnen, Hausfrauen. Lebenswelten treffen aufeinander. Die Stücke, die Marianne für die BLAUE BLUME schreibt, spielen in und mit diesen Welten. In der Truppe prallen sie auf der Bühne und in privaten Gesprächen aufeinander und beleben auf skurrile Weise.
Ein bis zwei Jahre proben sie ein Stück, einmal im Monat, und schaffen es, bei der Generalprobe alle anwesend zu sein. Nicht einfach mit 16- 18 Darstellern aus vollkommen unterschiedlichen Leben. Da krachen die Interessen und Meinungen aufeinander, aber mit Kuchen, Kaffee, Nachsicht, mit Witz und Galgenhumor lässt sich vieles lösen, so märchenhaft das scheint.
Unsere Motivation
Aufführen heißt Bühnenbild zusammenbauen, Vorhänge, Licht, Requisiten, Kostüme packen (ihr Fundus ist riesig inzwischen durch Spenden von Theaterleuten aus Berlin), am Spielort aufbauen, Generalprobe am Tag vor der Aufführung, nach Hause fahren, am nächsten Tag wieder hin, Aufführung, abbauen, nach Hause fahren. Es ist stressig, aber die Gruppe, die nur schwer auf eine Tour gehen könnte, weil die gegensätzlichen Leben das verhindern, bekommt dann ein on the road Gefühl. Alles zusammen tun. Schleppen, Bauen, Essen, Pause. Alle können inzwischen überzeugend schauspielen. Natürlich sind sie Amateure, eine Laienspieltruppe, aber Spielwut und Begabung, der Mut, sich zu zeigen, besonders für diejenigen, die ihre Wurzeln in der Prignitz haben und fest im dörflichen Leben verankert sind, verblüffen selbst Profis.
Alle Rollen in SEIDENSTRASSE sitzen. Aber es ist ein kompliziertes Stück, eines, das nicht jeder Zuschauer verstanden hat. Einzelne Szenen nehmen sie mit nach Hause, sagen sie, und ein Bauer im Sonntagsanzug, schon recht alt , meint, er sei das erste Mal im Theater gewesen und sehr überrascht, wie kurzweilig es sei. Es macht total Spaß, so etwas zu hören.
Warum spielt ihr nicht in Berlin?
Warum spielt ihr nicht in Berlin, werden sie oft gefragt. „Wo?“ fragen sie zurück.
In der Gegend, wo sie agieren, bietet sich kulturell wenig an. Die Bühnen in den Dorfkneipen verwaisen. Ab und zu eine Hochzeit oder der Karneval, die Jäger. Es ist unglaublich spannend, das zu beleben. Diese Bühnen zu bebauen und zu bespielen.
Berlin hat große Theater, kleine Bühnen, Improvisationstheater, in Berlin spielt es jeden Tag. Wenn die BLAUE BLUME von kleineren Theater in der Umgebung eingeladen wird, entspricht das viel mehr der Idee, dem Konzept und den Möglichkeiten, die diese belebende Truppe hat.